Eine saftig grüne Wiese, darauf grast eine Schafherde. In der Ferne auf einem Hügelzug thront eine alte Schlossruine. Leise sind die Töne eines Dudelsackspielers zu hören. Die Landschaft, der Dudelsackspieler, die Burg – alles könnte gerade so gut auf einer Ferienpostkarte zu sehen sein. Idylle pur. Doch genau diese Idylle trügt. Wir befinden uns in Schottland – dem nördlichsten Land im Vereinigten Königreich. Bei immer mehr der rund 5.5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner ist das Bedürfnis einer Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich spürbar. In den Strassen einer schottischen Stadt sind auf den Autos Sticker zu sehen, welche für eine Unabhängigkeit werben. An Gebäuden hängen Banner. In der blau-weissen Farbe der schottischen Flagge prangen darauf die Grossbuchstaben «YES» und «AYE» (Aye ist die schottische Version von «Yes», also «Ja»).
>>Und auch im Netz wird über die Unabhängigkeit diskutiert. Sucht man auf dem Kurznachrichtendienst Twitter nach #ScottishIndependence oder #indyref2 sind unzählige Tweets zu finden. In den letzten Monaten gibt es mehrmals Twitter-Marathons – das Ziel: möglichst viele Leute twittern über dasselbe, um so in den Top-Hashtags zu landen.

Knapp die Hälfte für Austritt
Zurück in die reale Welt: Werden die Schottinnen und Schotten auf ein neues Referendum angesprochen, so sind sie geteilter Meinung. In einer Umfrage der schottischen Tageszeitung «Daily Record» sprachen sich im Schnitt rund 45 Prozent für eine Unabhängigkeit aus, 7 Prozent sind unentschlossen – 48 Prozent waren dagegen. Hingegen in einer aktuellen Umfrage des schottischen Fernsehsenders STV sind 52 Prozent für die Unabhängigkeit, 4 Prozent unentschlossen und 43 Prozent dagegen. Schottland ist unentschlossen.
>>Um besser zu verstehen, weshalb Leute für oder gegen einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich sind, tausche ich mich mit mehreren Schottinnen und Schotten aus. Würde er morgen über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich abstimmen, wäre er klar dafür: Karl Saunders. Der junge Schotte wohnt in der Hauptstadt des Landes, Edinburgh. Im Gespräch erklärt er, weshalb er für eine schottische Unabhängigkeit ist. «Schottland und der Rest des Vereinigten Königreichs, namentlich England, sind zu völlig unterschiedlichen Ländern geworden. Wir wählen anders, sind gegenüber Themen wie zum Beispiel der Bekämpfung des Klimawandels aufgeschlossener als die rechte englische Regierung und wurden gegen unseren Willen aus der EU gerissen», sagt Karl Saunders. Der Austritt aus der EU fällt immer wieder als Argument für eine Unabhängigkeit. Rückblende: 2016 stimmt das Vereinigte Königreich über den Austritt aus der Europäischen Union ab – kurz den Brexit. Schottland tanzt dabei aus der Reihe und stimmt mit 62 Prozent klar gegen einen Austritt.
45 -
52 %
sind für eine Unabhängigkeit
4 -
7 %
sind unentschlossen
43 -
48 %
sind gegen die Unabhängigkeit
Bereits einmal gab es ein Referendum
Die Schottinnen und Schotten fühlen sich hintergangen. Im Jahr 2014 wird über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich abgestimmt. Das Nein-Lager gewinnt – unter anderem mit dem Argument, dass Schottland nur bei einem Nein weiterhin Teil der EU sein wird. Nur gerade zwei Jahre später wird der Austritt aus der Europäischen Union beschlossen. «Viele meiner Freunde haben beim ersten Referendum mit Nein gestimmt. Sie haben aber ihre Meinung geändert und sind jetzt für die schottische Unabhängigkeit», sagt Karl Saunders. Er schaut einer möglichen Unabhängigkeit Schottlands positiv gegenüber. Ängste hat er keine – nur Hoffnungen: «Der EU wieder beitreten, ein Grundeinkommen und sich mehr an den skandinavischen Ländern orientieren, darauf würde ich hoffen.»
>>Während Karl Saunders in Edinburgh klar für ein unabhängiges Schottland stimmen würde, sieht es bei Olivia Smith anders aus. Olivia Smith heisst im realen Leben anders. Sie möchte ihren richtigen Namen nicht in diesem Artikel lesen. Die Bäckerin wohnt ebenfalls in Edinburgh. Als Hauptstadt von Schottland hat Edinburgh schon viel erlebt. Auf einem Hügel über der Stadt thront das Schloss, welches im Mittelalter bereits Schauplatz von schottischen Unabhängigkeitskriegen ist. Zurück in die Gegenwart: Wäre morgen die Abstimmung, würde Olivia Nein stimmen. «Ich habe Angst, dass ich im Falle einer Unabhängigkeit meine Familie und Freunde in England nicht mehr so einfach besuchen könnte. Ausserdem bin ich mir nicht sicher, ob Schottland als eigenständiges Land ökonomisch überleben könnte. Und zu guter Letzt ist es auch nicht sicher, ob Schottland wieder in die EU aufgenommen werden würde», sagt Olivia Smith.
>>Mit dieser Sorge ist sie nicht allein. Auch Ian Mackay geht es so. Seinen richtigen Namen möchte er hier nicht lesen. Wäre morgen das Unabhängigkeitsreferendum, würde Ian Nein stimmen. Der gebürtige Schotte lebt und arbeitet heute in der berühmten Metropole an der Themse – in London. «Weil ich zur Hälfte Engländer bin, habe ich auf beiden Seiten der Grenze Familie. Ausserdem liebe ich die Flexibilität, wo immer ich möchte (im Vereinigten Königreich, Anm. d. Red.) zu wohnen», sagt er.

Schottland muss sich mit England zusammenschliessen
Schottlands Drang nach Unabhängigkeit ist nicht neu. Doch weshalb befindet sich Schottland überhaupt im Vereinigten Königreich? Dafür blättern wir in den Geschichtsbüchern zurück bis ans Ende des 17. Jahrhunderts. 1698 verliessen fünf Schiffe mit 1‘200 Menschen an Bord den Hafen von Edinburgh. Ihr Ziel: Panama. Dort soll durch Schottland die Kolonie «New Caledonia» aufgebaut werden. Das Vorhaben scheitert nach weniger als zwei Jahren. Zurück bleibt ein riesiger Schuldenhaufen. Schottlands Finanzen stehen so schlecht da, dass dem Land nichts anderes übrig bleibt, als sich mit England zusammenzuschliessen.
>>1707 unterzeichnet Schottland den «Act of Union». Für England geht damit ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Aufseiten der Schotten spielen bei der Unterzeichnung vor allem auch persönliche Absichten der Parlamentarier eine grosse Rolle. So kommt England für die Schulden Schottlands – und damit auch dieser der Politiker auf. Sie haben mit der missglückten Kolonie «New Caledonia» viel Geld verloren. Seit über 300 Jahren befindet sich Schottland also nun mehr oder weniger glücklich im Verbund «Vereinigtes Königreich». Bis in die 1990er-Jahre ist die Rollenverteilung klar: Westminster regiert, Schottland hat nichts zu sagen.
>>Dann der Wechsel: Unter dem Labour-Premierminister Tony Blair erhält Schottland 1999 ein eigenes Parlament. Fast 300 Jahre nach dem sie dieses durch den Zusammenschluss mit England verloren haben. Zudem erhält Schottland auch einen First Minister («Erster Minister»). Dieser ist in der Rangfolge unter dem britischen Premierminister. Fortan werden nicht mehr alle schottischen Angelegenheiten in Westminster bestimmt. Auch der Ruf nach Unabhängigkeit wird immer lauter. Der Brexit und die aktuelle Regierung von Boris Johnson spielen dabei eine grosse Rolle. «Nachdem ich früher aus wirtschaftlichen Gründen «Nein» gestimmt habe, ist es immer frustrierender zu sehen, wie die Bedürfnisse meines Landes untergraben und von Westminster übergangen werden», sagt Rebecca Mitchell. Sie wohnt in Edinburgh, Schottlands Hauptstadt und Sitz des nationalen Parlaments. Rebecca sagt: «Die vielen, vielen Fehler von Boris (ernsthaft, wer lässt diesen Mann in die Öffentlichkeit gehen, geschweige denn ein Land regieren!) bringen die Schotten nur noch weiter davon ab, mit Westminster zu kooperieren.»
>>Es ist ein Bild, welches sich auch in Meinungsumfragen abzeichnet. Mit der aktuellen schottischen ersten Ministerin, Nicola Sturgeon, sind die Schottinnen und Schotten zu 58 Prozent zufrieden. Dies zeigt eine Umfrage des schottischen Fernsehsenders STV. In der gleichen Umfrage sind gerade einmal 16 Prozent mit Boris Johnson, dem aktuellen britischen Premierminister, zufrieden.

Kampf für die Unabhängigkeit geht weiter
Der Brexit, die aktuelle britische Regierung und allen voran Boris Johnson: der Unmut bei den Schottinnen und Schotten ist gross. Doch auch der Weg zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum ist steinig. Nicola Sturgeon, Schottlands erste Ministerin, muss in Westminster um Erlaubnis fragen. Dort heisst es nur: «It is not the time» – es ist nicht die Zeit dafür. Darüber ist die erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, «not amused». Sie und ihre Schottische Nationalpartei (SNP) haben zusammen mit den schottischen Grünen bei den Wahlen im Mai 2021 eine Mehrheit der Sitze erhalten. Beide Parteien wollen die Unabhängigkeit Schottlands. Für Nicola Sturgeon ist das Wahlresultat ein klares Mandat für ein zweites Referendum. Im Jahr 2023 sollen die Schottinnen und Schotten darüber abstimmen können. So will es Nicola Sturgeon, welche zugleich erste Ministerin und Parteichefin der SNP ist. Es ist ein Kampf von David gegen Goliath. Und dieses Mal ist der Kampf nur mit Worten – und nicht mit Waffen. Ganz anders als es wohl die alte Schlossruine aus der Postkartenidylle in der Vergangenheit erlebt hat. Und doch: die Idylle in Schottland trügt.